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Aus der literarischen Sicht waren die Jahre seit
1988 für mich gewiß sehr aufregend. Zur Gründung des eigenen Verlags kam die
Verwandlung zum (Transitions-)Kapitalisten. Außerdem schreibe und denke ich seit 1991 nur
noch Texte über den Krieg. Ihre Parameter heißen Vukovar, Pakrac, Sarajevo, Srebrenica.
Orte, in denen ich vorher nie war, außer einmal zwei Tage in Sarajevo. Inzwischen kenne
ich Pakrac, wo in den Häusern junge Bäume wachsen. Die wichtigen Erfahrungen sind also
nur bedingt literarisch.
1.
Das Verschwinden des Staates Jugoslawien ist für mich nicht mehr relevant. Schon mein
Großvater war Bürger von fünf Staaten. Bis 1918 Bürger der Habsburgischen Monarchie;
ab 1918 Bürger des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen, ab 1927 des Königreichs
Jugoslawien; von 1941 bis 1945 war er Bürger des Unabhängigen Staates Kroatien; bis zu
seinem Tode Bürger der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. In der Habsburger
Monarchie war er Wehrdienstverweigerer; während des ersten Weltkriegs wurde er, als
Österreicher, in England interniert; im Vorkriegsjugoslawien hat er sein Vermögen
verloren, den Unabhängigen Staat Kroatien hat er als Inhaber von Lebensmittelkarten
dritter Klasse überlebt; das kommunistische Jugoslawien hat ihn als Vertreter des
reaktionären Bürgertums enteignet (Familienhaus am Stadtrand). Er war von Beruf Cellist.
Meine Schlußfolgerung anno domini 1995: Die größte Leistung
des Staates Jugoslawien ist schließlich der Untergang geworden, den er produziert hat und
nun mit dem physischen und psychischen Ruin seiner Bürger in Rechnung stellt.
2.
Dieser blutige Untergang ist vor allem Sache von uns sogenannten Ex-Jugoslawen. Ganz
gleichgültig, ob der einzelne dabei Opfer oder Täter ist. Dennoch reichen die
Implikationen weit über uns hinaus. Seit Vukovar (1991) findet eine groteske
Kompromittierung des nahezu gesamten, sich geistig gebenden Europas statt. Das berühmte
"Nie wieder" hat sich als unverbindliche, konventionelle Floskel erwiesen. Das
ist kein moralischer Vorwurf, sondern eine Feststellung. Mord in großem Maßstab,
Apartheid (wie im Kosovo), massenhafte Verfolgungen sind in Europa eine Realität. Sie
haben nur wenige Schriftsteller oder Philosophen zu mehr als "Unverständnis"
und "Ratlosigkeit" veranlaßt. Die ernsthafte Diskussion ist weitgehend
ausgeblieben, vom Engagement (wie für Vietnam) ganz zu schweigen. Generationen, die
tausende Buchseiten und tausende Kilometer Filmrollen als eigene Schuldabtragung und
Trauerarbeit legitimiert und verklärt haben, diese (meine) Generation erfolgreicher
Holocaust-Trauerarbeiter und -Ästheten hat im Jahr 1994 als schluchzendes Kinopublikum
von Steven Spielbergs Schindlers Liste geendet. Den monumentalen Schlußstein
dieser Bankrotterklärung setzte kürzlich der Guru selbst - Jürgen Habermas im
verlegenen Interview für den Spiegel vom August 1995 (Wirklich: vom August 1995!).
Die fundamentale Generationsfrage, ob nach Auschwitz Literatur
überhaupt noch möglich sei, ist aufs Zynischste beantwortet worden: Auschwitz ist
möglich.
3.
Was ist aber mit uns (mit mir) seit 1988 geschehen? Abgesehen davon, daß einige unserer
Kollegen dazu beigetragen haben, daß der Übergang zur parlamentarischen Demokratie als
ein blutiger Bocksgesang endet, sind wir nur noch auf die Zukunft reduziert. Sie kann
Vieles meinen, schließt Eines aber sicher aus die nochmalige Forderung nach einer
jugoslawischen Utopie. Angesichts der Leiden der Bevölkerungen wäre das abgeschmackt und
mitleidslos. Die südslawische Inteligencija hat ja vor 150 Jahren die jugoslawische Idee
erfunden und hat sie 1918 politischen Machteliten zur Ausführung übertragen. Die
Resultate sprechen für sich. Die Nationen, Bevölkerungen müssen nun als Wähler und
Bürger ohne Vormünder bestimmen, was sie sein wollen und was sie nicht sein wollen. Ich
bin mit solcher Meinung wohl regressiv, und vermutlich, was sonst: nationalistisch.
Jedoch: Die Bescheidenheit im Umgang mit sozialen und politischen Utopien ist das
Wenigste, was nach dieser Katastrophe die südslawische Inteligencija von sich selbst
fordern sollte. Sie muß nun eine Doppelarbeit leisten: einmal die kritische
Selbstprüfung, und dann innerhalb der gegebenen Umgebung, die wenig glamouröse Arbeit
der Wiederherstellung des angeschlagenen öffentlichen Bewußtseins verrichten. Der oder
die Intellektuelle wird sich dabei, fürchte ich, weder auf die bequeme Distanz zur
eigenen Umgebung berufen, noch sich in ihre Mythisierung flüchten können. Und sich am
allerwenigsten auf Andere oder Anderes herausreden können.
Alleine diese Konzentration auf das eigene provinziell
anmutende Milieu könnte eine vernünftige Sichtung der Überreste der südslawischen Idee
ermöglichen. Die wirklich relevanten Gemeinsamkeiten und gegenseitiges Interesse
füreinander werden erst dann, ohne den Ballast von Utopismus und Voluntarismus, zu
erkennen sein. Erst dann wird Austausch nicht nur möglich, sondern (endlich?) auch
authentisch, frei und produktiv sein. Das heißt, ohne das implizite Angebot der
politischen Funktionalisierung an die Politiker und ohne das zeremonielle Interesse
füreinander, von dem der jugoslawische Literaturbetrieb keinesfalls frei war. Dann werden
wir, zum Beispiel, sehen, ob es eine jugoslawische Literatur oder Literaturen im Staat
Jugoslawien gegeben hat.
Jugoslawien wird erst als gemeinsame und bewältigte
Vergangenheit etwas bedeuten können. Heute liegen die Enttäuschungen allerdings zu tief,
als daß ich ruhigen Gewissens behaupten könnte, eine Annäherung als Aufarbeitung werde
in fünf oder zehn Jahren stattfinden. Ich wäre froh, wenn zu meinen Lebzeiten wenigstens
der erste Abbau von Ressentiments gelänge.
Gebe ich damit höhere Kriterien preis? Vielleicht. Aber ich
würde mich über mich wundern, dächte und fühlte ich nach allem, was geschehen ist, das
Gleiche wie vor sieben Jahren. Denn die Wahrheit ist, daß ich zur Zeit froh bin, daß es
in meiner Familie keine Toten gibt, daß ich meinen Beruf und meine Adresse behalten habe.
Und einen Paß habe, mit dem ich nicht an der nächsten Grenze abgewiesen werde. Anders
als mein nächster Nachbar, der einen Bombensplitter in der Wirbelsäule hat, anders als
viele meiner Kollegen, die nicht mehr im Labyrinth leben, sondern in Katakomben.
Post scriptum zur (persönlichen) Schuldfrage. Ich habe zu
diesem schrecklichen Untergang nicht wissentlich beigetragen. Doch fühle ich
Verantwortung und Schuld. Gegenüber Kindern. Sie brauchen mich nicht zu mögen.
(Zagreb, 18. August 1995)
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