Das jugoslawische LabyrinthLiteratursymposion 1995Vorab-Statements Slobodan Snajder |
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Mir widerfuhr das Unglück, von
einigen meiner eigenen Stücke ein- und mitunter sogar überholt zu werden. Und das
ausgerechnet von jenen, die ich lieber veraltet gesehen hätte. Das, was ich von da an
schrieb, war nichts anderes als eine Art persönlicher Hermeneutik des bereits
Geschriebenen. Ein Beispiel: Prägnant ausgedrückt könnte man sagen, daß all das, was
sich uns zutrug, seinen Ursprung in einer "nicht abgedienten Vergangenheit" hat,
die dann freilich "nicht mehr vergehen will". Jetzt kann man bei uns diesen
Prozeß, den Prozeß der Verdrängung der Vergangenheit, aus nächster Nähe studieren.
Die Massenvergewaltigungen von vornehmlich bosnischen Frauen waren, als uns die ersten
Nachrichten in Kroatien erreichten, in aller Munde. Dann wurden diese Frauen, über Nacht,
infolge des weiteren Verlaufs des Krieges, über den heute auf so gegensätzliche Weise
geurteilt wird, plötzlich zu Frauen eines feindlichen Stammes. Auf der Stelle verschwand
jegliches Interesse an ihnen, das Verdrängen der "unbrauchbaren Vergangenheit"
begann, sozusagen synchron mit ihrem Ablauf. Und warum dann an eine Vergangenheit denken,
die ein halbes Jahrhundert zurückliegt? Erfahrungen dieser Art machen zornig. Zorn ist nichts ungewöhnliches
in der Kunst. Auch das allen plausible und von allen begrüßte Programm "stell dich
auf die Seite der Opfer" ist nicht viel mehr. Das weiß ich, wie zornig ich auch sein
mag, nur zu gut. Wenn sich die Welt um uns herum zu einer Halluzination verdichtet hat,
kann man sie wohl nur mit einer Halluzination durchblicken. Nicht etwa mit einer, die
blind macht, diese gibt es bereits zur Genüge, sondern im Gegenteil, mit einer, die
hellsichtig macht, oder die, nach dem uralten und in der Zwischenzeit veralteten Programm
einer gewissen Poetik, Angst erzeugt und vor allem, Mitleid. Angst zum Beispiel ist
wesentlich für das Verständnis der simplen Wahrheit, daß das, was den traurigen Helden
einer in sich zusammengefallenen Welt widerfährt, schon
morgen auch unser Schicksal sein könnte. Man muß wissen, daß der verbissene
Nationalismus nichts anderes ist als eine Art Defekt der Phantasie: die Unfähigkeit, sich
selbst in die Lage des anderen zu versetzen und so wird dieser andere vernichtet, ohne
Scham, ohne Schmerz. Die nächste Erfahrung reduziert sich auf eine abgrundtiefe
Verachtung, die ich heute gegenüber allen Formen der Massenbegeisterung und den
Verführern, die sie erzeugen, empfinde. Im Prinzip ermöglicht das Verdrängen der Erfahrungen und wiederum die "nicht
abgediente Vergangenheit" erst den Erfolg diffuser Gefühlsbewegungen. Die
Halluzination im Sinne der Kunst, von der ich spreche, arbeitet nicht unmittelbar damit,
sondern wie mit Material, das sie förmlich vorhersagt. Die tiefe Verachtung gegenüber
allen Formen der Massenbegeisterung ist im Grunde eine Verachtung der politischen Klasse
als solcher, ungeachtet dessen, daß ich nur zu gut weiß, daß sie ein Bildschirm ist,
auf den die Masse ihre Ängste projiziert. Doch die politische Klasse in Ex-Jugoslawien
hat sich auf unverfrorene Weise die Tatsache zunutze gemacht, daß sie zu einem gegebenen
Zeitpunkt, in der Funktion eines Schildes, diese Angst besaß und sie in absolute
Herrschaft umwandelte. Zorn beiseite: dies ist eine wichtige Erkenntnis. Die dritte Erfahrung bezieht sich auf die richtige
Perspektive, die es uns erst ermöglicht, zumindest zum Teil nachvollziehen zu können,
was sich uns zutrug. Bei uns wird eine Art Preludium zum Thema Weltuntergang gespielt, was
ein verständliches Thema ist, wenn etwas ohne Erfüllung dem Ende zugeht, so wie sich das
zweite Jahrtausend seinem Ende zuneigt. Eine solche Verbindung würde auch sonst die
Erwartungen des Jahrtausends potenzieren. Und daher sind wir traurige Helden eines
Preludiums, aus dem jedermann spielend schließen kann, wie erst das Stück sein muß. Und
so ist die Welt in sich verbunden und zugleich völlig gleichgültig, weil man dem Irrtum
erliegt, daß der Vorhang schon nach dem Prolog fallen könnte: die Verbindung ist eher
strukturell, ästhetisch, als natürlich ethisch. |
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