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Falter    Nr.42  2000

Selbstfindung in Sarajevo

Zivilisationskritik   Walter Grond kehrt in seinem neuen Roman zum traditionellen Erzählen zurück

Von Helmut Gollner

Ein Professor aus der Technologieabteilung des Abendlandes steckt in einer abendländischen Identitätskrise. Morgenländische Freunde verhelfen ihm zu einem Ausflug ins (vorgeschobene) Morgenland auf dem Balkan. In Sarajevo gibt’s Nachkriegselend und Islam. Das heilt den abendländischen Individualismus. Der Professor findet zu sich, zu seiner Frau und zu einem neuen Job.

Vor Antritt des neuen Lebens gibt’s einen Genesungsurlaub an der Adria mit einer kleinen, zwar unfreiwilligen, aber digital geschützten und insgesamt stimulierenden Robinsonade. Ein paar Zeilen vor dem Ende des Buches fällt dann noch ein Jungvogel vom Baum, unter dem die Schiffbrüchigen sitzen, und wird vom Professor geistesgegenwärtig gerettet.

Ich hätte das nie geschafft: an seinem Schatten in Fallgeschwindigkeit einen Vogel so schnell zu erkennen, dass man rechtzeitig seine Jacke ausbreiten kann. Gegen diese Leistung ist das anschließende Baumkraxeln ein Kinderspiel. Ich aber hätte den Vogel bei der Rettungsaktion sicher berührt: der Professor hingegen weiß, dass man das nicht darf (fremde Witterung!), und hat blitzschnell ein Taschentuch zur Hand (muß es eigentlich auch sauber sein?).

Es geht aber gar nicht darum, eine vielleicht unachtsam gestaltete Szene spöttisch aufzubauschen. Es geht darum: Wenn ein Autor mit so avanciert sprachkritischem und poesiekritischem Bewusstsein wie Walter Grond (ABSOLUT HOMER; ABSOLUT GROND) zurückkehrt zu traditionellem Sprach- und Erzählverhalten, dann werden seine Gründe gewichtig sein. Die Wirklichkeit hat offensichtlich nicht aufgehört sich aufzudrängen und dem formalen Avantgardisten Grond Gesinnung abzufordern. Und der erfolgversprechendste Weg, Gesinnung literarisch zu verbreiten, ist immer noch das fiktionale Erzählen.

Ich meine: So ein kleiner Vogel-Unfall passiert eben in der traditionellen Erzählhaltung, sofern sie mit Weltanschauung Welt regieren oder reparieren will. Der Professor ist wieder im Vollbesitz seiner humanistischen Kräfte, und da kommt der Vogel als Bewährungshelfer eben recht. Vor Freude über die Aussagekraft des Beispiels übersieht man dann manchmal seine Durchführbarkeit.

Der Vogel-Unfall ist ein Struktursymptom. Das alte Misstrauen gegen den alten Gesinnungsroman war aber schon vorher geweckt. Wenn man, grob gesagt, an seinem Helden vorführt, wos lang geht, dann wird alle Realität, die der Realismus verspricht, zur Kulisse: Dann kommt die schreckliche Realität der neueren Balkan-Geschichte in den Geruch, dem verhätschelten Helden als Sanatorium für seine verunsicherte Wohlstandsidentität zur Verfügung gestellt worden zu sein; dann bedeutet Happy End, dass der verhätschelte Held den heilsamen Schrecken in Sarajevo mit einem touristischen Sidestep einfach verlassen kann; das Morgenland im Rücken, erneuert er das alte Abendland: seinen arglosen Individualismus (die Abenteuerlichkeit eines unabhängigen Ichs), seinen kurzarmigen Humanismus (außer dem Vogel rettet er noch einen Bosnier vor der Abschiebung und einen Serben vor bosnischem Vorurteil); der verhätschelte Held: Er darf sich gewandelt haben, darf glücklich sein, und alle verlassenen Frauen (pro Lebensstation eine) sind kooperativ. Die Fremdheit der Welt war bloß Folge einer passageren Selbstentfremdung, wahrscheinlich einfach klimakteriell erklärbar. Man bekommt ein bisschen Sehnsucht nach dem Erzählschalk aus ABSOLUT GROND, aber Grond meint es diemal absolut ernst.

Wenn man das Buch ohne Vorwissen (von Gronds Rückkehr aus der Avantgarde) liest, wird man es zwar nicht als literarische Sensation nehmen, aber vielleicht leichter seine klassischen Qualitäten genießen können: einen dramaturgisch, manchmal kriminalistisch wohl gespannten Aussagebogen; viel Authentizität (Technik, Sarajevo, Jugendszene); wirkungsvoll sachliche Beobachtung (vor allem des kriegsversehrten Sarajevo); sprachliche Inszenierung bei dem sinnverwirrenden Erlebnis jugendlicher Mega-Partys.

Das Buch enthält außerdem viel entzündlichen Stoff, dem breite Diskussion zu wünschen ist: die Verfassung westlicher Humanität angesichts einer von Humanität und Westen verlassenen Nachbarschaft; die fragwürdige Ich-Kultur des Westens überhaupt (im Roman behauptet  der Professor die Verabschiebung seiner Einzigartigkeit), die gesellschaftliche Rolle globaler Telekommunikation (im Roman kommt ihr buchstäblich zukunfts- und lebensrettende Funktion zu); die humane Verträglichkeit künstlicher Intelligenz (im Roman ein lockendes Abenteuer), das Realitäts und Lebensverständnis der jungen Generation (im Roman faszinierte Kenntnisnahme).

Walter Grond
Old Danube House
Haymon Verlag 2000